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Lehren aus dem Desaster ziehen oder: wie japanische Bibliotheken das „Große Erdbeben“ aufarbeiten

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Ausschnitt aus der Dokumentation „The Phone of the Wind“ (Quelle: NHK).

Der WLIC ist zwar vorüber, aber hallt noch lebendig nach. So ergeht es vielen Menschen, insbesondere in Japan, mit dem 11. März 2011. Ich erinnere mich noch bestens. Als an diesem Tag das Tōhoku-chihō taiheiyō-oki jishin , das „Erdbeben an der Pazifik-Küste vor der Tōhoku-Region“ jenen verheerenden Tsunami auslöste, dessen Flutwellen fast 16.000 Menschen das Leben kosten sollten, stand ich gerade in meiner Kölner Studentenwohnung, umzingelt von zahllosen Umzugskisten und starrte betroffen auf die furchtbaren Bilder, die das Fernsehen übertrug. Als Japanologin fühle ich mich diesem wunderbaren Land und seinen Menschen naturgemäß sehr verbunden – und ich sollte wenige Tage später in ein Flugzeug nach Ôsaka steigen, um mein Auslandssemester anzutreten. Die Katastrophe hat meinen Aufenthalt in Japan nachhaltig geprägt. Und daher kam ich auch nicht umhin, aufmerksam zwei Beiträge japanischer Kolleginnen zu verfolgen, die über die Dokumentation des Tōhoku-Erdbebens berichteten.

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Das Online-Portal HINAGIKU bietet Zugriff auf Material rundum das verheerende Tōhoku-Erdbeben (Quelle: NDL).

Im Rahmen einer der letzten Sessions des Kongresses, die unter dem Titel „Global E-Government: Trust, Transparency, and Transformation – Government Information and Official Publications“ stand, stellte Sachiko Inoue von der Nationalen Parlamentsbibliothek (mit anderen Worten die japanische Nationalbibliothek, auch NDL), das Projekt HINAGIKU vor. HINAGIKU steht für „Hybrid Infrastructure for National Archive of the Great East Japan Earthquake and Innovative Knowledge Utilization“. Ein sehr sperriger Name. Gut, dass das Wort hinagiku auch Gänseblümchen bedeutet. Das klingt nicht nur viel schöner, sondern darin schwingt auch eine kleine Botschaft mit. Denn das Gänseblümchen symbolisiert die Zukunft, die Hoffnung und das Mitgefühl.

Online gegangen ist HINAGIKU am 7. März 2013 und bietet derzeit Zugriff auf über 3,7 Millionen Daten, nicht nur zum Tôhoku-Erdbeben und der damit einhergehenden Nuklearkatastrophe von Fukushima, sondern mittlerweile auch zu weiteren Erdbeben und Tsunamis. Dazu zählen Fotos und Videos z.B. aus Evakuierungszentren, aber auch kommunale Dokumente und Aufzeichnungen wie Briefings von Komiteemitgliedern. Die Daten stammen aus verschiedenen Quellen, darunter aus mit HINAGIKU verknüpften Datenbanken anderer Regierungsinstitutionen, aber auch Spenden von Organisationen und Firmen. Das Portal richtet sich nicht nur an Wissenschaftler*innen, sondern auch an Studierende und Bürger*innen. Besonders positiv ist, dass die NDL auch solche Mitbürger*innen bedacht hat, deren Muttersprache nicht Japanisch ist – HINAGIKU hat ein multilinguales Interface und ist neben Chinesisch und Koreanisch (die beiden größten Migrantengruppen im Land) auch auf Englisch recherchierbar.

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Sachiko Inoue von der Nationalen Parlamentsbibliothek Japan

HINAGIKU war auch Tags zuvor kurz Thema in der Präsentation von Reiko Aoki, tätig am National Women’s Education Center (NWEC) in Saitama. Sie plädierte in ihrem Vortrag dafür, Erlebnisberichte gefährdeter Bevölkerungsgruppen besser verfügbar zu machen und legte den Fokus dabei speziell auf Frauen. Sie unterstanden in den Evakuierungszentren besonderem Druck und erfuhren oftmals zu wenig Schutz – es kam nicht nur zu Diskrimierung, sondern auch zu sexueller Belästigung bis hin zu Gewalt. Obwohl aber im direkten Vergleich zu ähnlichen Katastrophen überproportional viel Material rundum das Tōhoku-Erdbeben vorhanden ist, sind Aufzeichnungen von Frauen kaum einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Die Ungleichberechtigung, die viele Frauen erlebt hatten, setzt sich auf diese Weise in der Dokumentation fort.

Das liegt mitunter daran, dass Buchveröffentlichungen häufig nicht im allgemeinen Buchhandel erwerblich sind, oder Erfahrungen im Rahmen z.B. von Projekten, Workshops, Themenabenden o.ä. ausgetauscht werden. Dabei wurden bereits kurz nach der Katastrophe Richtlinien geschaffen, die eine umfängliche Dokumentation vorsehen, auch damit aus dem Geschehenen Lehren für die Zukunft gezogen werden können. So begann zum Beispiel die Präfekturbibliothek von Fukushima, obwohl durch den Tsunami beschädigt, unmittelbar nach dem Unglück mit der Sammlung von Materialien rundum die Nuklearkatastrophe. Und auch das Online-Portal HINAGIKU leistet einen Beitrag. Aber nur eine der 47 Organisationen, die das Portal mit Daten füttern – nämlich die Bibliothek des National Women’s Education Center – konzentriert sich auf Frauen.

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Reiko Aoki stellt Projekte vor, die Erlebnisberichte von Frauen sammeln und zugänglich machen.

Das ist wirklich schade, denn die Projekte, die Aoki vorstellte, sind tolle Beispiele dafür, wie Betroffenen eine Stimme gegeben und ein Ohr geliehen werden kann, um das Erlebte zu verarbeiten. Sehr gut gefiel mir das Photovoice Project, das in verschiedenen Regionen des Katastrophengebietes Gruppentreffen organisiert, in denen die Mitglieder Fotografien miteinander besprechen, die sie während oder im Nachgang des Tsunamis machten. Die Fotos werden anschließend in kleinen Ausstellungen zugänglich gemacht, einige wurden bereits in einem Booklet veröffentlicht. Schwer ums Herz wurde mir auch bei kaze no denwa, dem „Telefon des Windes“, das Angehörige in Ôtsuchi nutzen können, um mit vermissten oder verstorbenen Familienmitgliedern zu sprechen. Diese und ähnliche Projekte sollten nicht in Vergessenheit geraten, leisten sie doch einen wichtigen Beitrag für das kollektive Gedächtnis.

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Sehr empfehlenswert: die Dokumentation „The Phone of the Wind“ (Quelle: NHK).

 

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